Unter Spielleitern gibt es eine alte Weisheit: Kein Plot überlebt die Begegnung mit den Spielenden.

Wenn du schon einmal eine Rollenspielrunde geleitet hast, kennst du das Problem sicher: Du hast den Plot zumindest ungefähr ausgearbeitet und auch wenn die Spielenden an einigen Stellen wesentlich länger oder nicht so lang gebraucht haben, wie gedacht, kommen sie gut vorwärts. Nur, um dann auf einmal eine Entscheidung zu treffen, mit der du überhaupt nicht gerechnet hast. Vielleicht ignorieren sie einen wichtigen Hinweis, verlieren mitten im Plot das Interesse oder interpretieren die Wichtigkeit eines kleinen Details falsch und plötzlich macht die Gruppe sich auf den Weg durch die Wüste, obwohl sie stattdessen ein Schiff in die nächste Hafenstadt nehmen sollte. Was tun?

Ein häufig aufkommender Gedanke ist, die Aktionen der Spielenden zu lenken. Ein wichtiger NPC, äußere Umstände oder einfach die Stimme des Spielleiters zwingen die Gruppe dazu, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Zufällig genau die, auf die du dich vorbereitet hast. Das klingt verlockend, ist aber häufig die schlechteste Option und ist gerade im englischen Sprachraum als „Railroading“ verpönt.

Railroading beraubt die Spielenden dessen, weshalb viele überhaupt Rollenspiele spielen: Der Möglichkeit, echten Einfluss auf die Geschichte zu nehmen. In Computerspielen erfreut sich dieses Mittel großer Beliebtheit, eigentlich sind nahezu alle Computerspiele irgendwo ein wenig forciert in ihrem Plot, weil natürlich kein Computerspiel der Welt so dynamisch sein kann, sämtliche Entscheidungen aller Spielenden mit einzubeziehen. Da ist analoges Rollenspiel anders und Railroading nimmt ihm diesen Vorteil.

Um aber den Plot spontan anzupassen, musst du gut darin sein, zu improvisieren. Und das ist ein Talent, welches nicht jedem liegt. Was, wenn man die nächste Stadt schon klar definiert hat, die Spielenden aber auf eine einsame Insel wollen? Da einfach aus der hohlen Hand eine gänzlich neue Plotlinie zu erschaffen, kann schnell ausarten. Man vergisst, ein wichtiges Element einzubauen oder lässt den Plot aus dem Ruder laufen, sodass er an Klarheit und Übersichtlichkeit verliert. Und was, wenn die Spielenden sich so einen „Patzer“ eigentlich gar nicht leisten können, weil sie zum Beispiel unter Zeitdruck stehen?

Auch wenn der Anfang dieses Artikels vielleicht so wirkt, soll hier Railroading nicht verteufelt werden. Richtig eingesetzt, kann es den Plot tatsächlich retten, ohne die Agenda der Spielercharaktere zu beschneiden. Aber wie schon Paracelsus wusste: Die Dosis macht das Gift und bei Railroading ist die kritische Dosis, die den Plot umbringt, anstatt ihn zu heilen, schnell erreicht.

Railroading hat vor allem einen schlechten Ruf, weil es die Spielercharaktere ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt. Spielleitende, die zu häufig darauf zurückgreifen, spielen im Grunde genommen mit sich selber und machen die Spielercharaktere zu Statisten, die auf die Welt um sie herum reagieren, anstatt in ihr zu agieren. Und selbst dieses Reagieren tun sie nicht selbst. Wer darin kein Problem sieht, sollte lieber einen Roman schreiben, anstatt ein Rollenspiel mit anderen Leuten zu leiten.*

(*Außer natürlich alle Beteiligten sind damit einverstanden – das ist immer am Wichtigsten. Erlaubt ist, was gefällt.)

Bevor du auf Railroading zurückgreifst, solltest du dich fragen, ob es den Spielenden gegenüber fair ist, sie zu etwas zu zwingen. Gibt es gute Argumente, die gegen ihre momentane Entscheidung sprechen, bietet es sich an, ihnen diese aus einer sicheren Quelle zu präsentieren, ohne dabei dogmatisch zu werden. Beispielsweise durch einen NPC, dem die Gruppe vertraut. Auch das ist in einem gewissen Maße zwar Railroading, aber hier liegt der Unterschied zwischen gutem und schlechtem Railroading: Die Spielenden haben die Wahl, eine Entscheidung zu treffen.

Rollenspiele ermöglichen es, im Gegensatz zu Computerspielen, vollkommen frei zu entscheiden, was man als nächstes tut. Das schließt „unvernünftige“ (oder zumindest nicht zielführende Entscheidungen) mit ein. Dass daraus Probleme entstehen, gehört zu jedem Narrativ dazu, ansonsten wäre kein Spannungsbogen vorhanden.

In dem Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ des Mythologieprofessors Joseph Campbell wird die „Reise des Helden“ beschrieben, welche durch verschiedene Stationen gekennzeichnet ist. Darin sind Schwierigkeiten und Prüfungen immer wiederkehrende, wichtige Elemente, welche die Transformation der Hauptfigur begünstigen und schließlich dazu dienen, diese Wandlung zu verdeutlichen, beispielsweise, indem ein vorher unüberwindbares Hindernis mittels neuer Fähigkeiten oder Gaben bezwungen werden kann.

In diesem Sinne solltest du als Spielleiter Geduld mit den Spielenden mitbringen. Sie sind auf ihrer eigenen Heldenreise und jedes Hindernis, das sie sich selbst in den Weg legen, kannst du als Prüfung ansehen, die ihren Erfolg ermöglichen wird.

Das heißt natürlich nicht, dass du alles so hinnehmen musst, wie die Spielercharaktere es gerne möchten. Deine gewünschte Route zum Ziel muss nicht die Einzige sein, aber zu exotische Lösungsansätze funktionieren nur mit mehr Aufwand, als lohnenswert wäre.

Das lässt die gewünschte Route dann wesentlich verlockender erscheinen und die Spielenden treffen möglicherweise von sich aus die Entscheidung, ihr doch zu folgen. Das ist zwar effektiv dasselbe, wie sie ihnen einfach aufzuzwingen, aber dass sie die Entscheidung selber getroffen haben, macht das ganze wesentlich angenehmer für sie.

Ein noch besserer Ansatz ist in den meisten Fällen, den Plot nur ungefähr vorzubereiten und sich dabei an der Heldenreise zu orientieren. Die Spielercharaktere haben eine feste Agenda, auch wenn sie selber davon nichts wissen und der richtige Ort ist der, an den sie als nächstes kommen. Auch hier werden sie zwar von dir in eine gewisse Richtung gelenkt, aber nicht als die „Stimme Gottes“, die ihnen befiehlt, was sie zu tun haben, sondern als Zufall, der im Nachhinein kaum von „Vorhersehung“ zu unterscheiden ist.

Dieser Ansatz braucht ein wenig mehr Vorbereitung als eine feste Plotlinie, ist aber für die Spielenden sehr viel angenehmer und oft auch für dich besser zu leiten. Du wirst selbst auch ein wenig zum Spieler, denn du musst dich auf neue Situationen einstellen und hast die Freiheit zu improvisieren, ohne dabei Angst haben zu müssen, in ein Loch zu fallen, weil du wichtige Details übersiehst.

Ein Beispiel aus der Praxis:

Alex leitet eine Gruppe, bestehend aus der Magierin Samira, dem Krieger Darnholt, der Kampfkünstlerin Fen und dem Schurken Borya.

Die Gruppe hat vor kurzem den Auftrag erhalten, den Erben eines mächtigen Fürsten zu finden, der bei einem Ausritt verschwunden ist. Seine Spur hat sie bis in das Fischerdorf Heringen geführt, wo Gerüchte die Runde machen, dass ein finsterer Kult seinem Gott Menschenopfer darbringt und es dabei vor allem auf Adelige abgesehen hat, deren Blut ihrem Gott am gefälligsten ist.

Um die Geschichte ein wenig auszuschmücken, erfindet Alex eine Legende, laut der das Kultzentrum dieses Gottes früher einmal in der mittlerweile verlorenen Ruinenstadt Ang in der Wüste gelegen hat, bis es von den anderen Göttern im Zorn zerstört wurde.

Alex‘ Plan sieht es vor, dass die Gruppe noch auf ein weiteres Gerücht stößt: Einige Kinder haben beim Spielen gesehen, wie eine Person, die dem Erben des Fürsten sehr ähnlich sieht, auf ein Schiff geladen wurde, das regelmäßig aus der „großen Stadt“ herüber kommt. Ein wenig Kombinationsarbeit der Spielercharaktere würde dann ergeben, dass mit der „großen Stadt“ vermutlich die Hafenmetropole Alasandria gemeint ist und dass das neue Kultzentrum des Gottes mittlerweile dort liegt.

Leider schießen sich die Spielercharaktere auf die Idee ein, zuerst die Ruinenstadt Ang genauer zu untersuchen. Diese hat Alex nicht ausdefiniert – warum auch? Die Spielercharaktere sollen überhaupt nicht dort hin, dort irgendetwas vorzubereiten wäre also vergeudete Zeit gewesen. Jetzt aber macht sich die Gruppe bereit, nach Ang zu reisen und fragt Alex, was für Städte es in der Nähe gibt, wie lange die Reise dauert und was sie am besten mitnehmen. Was kann Alex jetzt tun?

Am einfachsten wäre es natürlich, einfach zu sagen: „Nein, eure Charaktere müssen nicht nach Ang.“ Kurz, knapp und langweilig. Die Spielenden wissen jetzt, dass der Plot Ang überhaupt nicht weiter vorsieht und fühlen sich in ihrer Entscheidungsfreiheit beschnitten.

Ein wenig besser, aber auch nicht gut, wäre es, einen NPC scheinbar ohne jeden Bezug einzubringen, der ihnen die Reise nach Ang rundheraus verbietet. Selbst wenn Alex jetzt das Gerücht anbringt, der Erbe sei auf ein Schiff nach Alasandria geladen worden, die Spielercharaktere könnten es inzwischen für eine Finte halten.

Eine Möglichkeit, die Alex dann hat, wäre „sanftes“ Railroading. In diesem Fall könnte es zum Beispiel sein, dass eine Reise nach Ang mehrere Monate dauern würde und nicht ungefährlich wäre. Außerdem liegt Ang (wie Alex spontan entscheidet) so tief in der Wüste, dass man allein dafür eine ganze Expedition zusammenstellen müsste, die noch dazu sehr teuer wäre – niemand nähert sich freiwillig der verfluchten Kultstätte des finsteren Gottes, jedenfalls nicht ohne gute Bezahlung. Schon ist Ang eine weniger verlockende Alternative und die Spielercharaktere beginnen, sich nach Alternativen um zu hören, die sie vielleicht übersehen haben.

Vielleicht aber auch nicht. Spielercharaktere sind häufig unberechenbar und gerade so ein Gerücht könnte sie darin bestätigen, ihre Vorbereitungen zu intensivieren. Vielleicht können sie die Kultisten abfangen, bevor sie überhaupt in Ang ankommen, wenn sie nur schnell genug handeln! In diesem Fall hat Alex unfreiwillig den Plot noch weiter in die falsche Richtung getrieben.

Was Alex stattdessen hätte tun können, wäre folgendes: Der Plot sieht lediglich vor, dass die Gruppe sich auf die Suche nach dem Erben macht und einer Spur folgt. Sie folgen dieser Spur in eine Stadt namens Traufurt, wo ein örtlicher Händler mit dem finsteren Kult unter einer Decke steckt. Ob diese Stadt in der Nähe von Alasandria liegt oder am Rande der Wüste von Ang ist zweitrangig. Wichtig ist, dass die Spieler einem Hinweis folgen und an einen NPC geraten, der mit dem Kult gemeinsame Sache macht – vollkommen egal, wo genau sie diesem NPC begegnen.

Gutes Rollenspiel lebt vom Miteinander. Als Spielleiter verkörperst du die Welt genau so, wie die Spielenden ihre Charaktere verkörpern. Ihr seid alle gleichwertige Autoren der Geschichte, auch wenn du einige Fäden mehr in der Hand hältst, was ihren genauen Verlauf betrifft.

Ziemlich sicher hast du natürlich trotzdem einige Dinge im Kopf, die unbedingt passieren sollen: Ein bestimmter NPC, eine besonders dramatische Szene, Dinge die du nicht so einfach umschreiben kannst. Genau wie die Spielenden das Recht darauf haben, mitzubestimmen wohin die Reise geht, hast du es natürlich auch. Manchmal ist „sanftes“ Railroading hier das Mittel zum Zweck und ab und zu darfst du auch auf „hartes“ Railroading zurückgreifen, wenn die Situation nur ernst genug ist. Auch in der Heldenreise gibt es manchmal Raum für Zwang und Notwendigkeit, für Dinge, die außerhalb der Kontrolle der Heldengestalt liegen. Aber das sollte sparsam geschehen und anschließend zu einer entsprechenden Belohnung führen – und dazu, dass die Spielenden bei der nächsten dramatischen Situation ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen.